Advent in Jerusalem und in der Erlöserkirche


Wie wird es sein, so nah am Ort des Geschehens Weihnachten zu feiern? Die Christen in Jerusalem bereiten sich vor und am Weihnachtsschmuck kann ich sie vereinzelt erkennen. Einsam leuchten Tannenbäume in der Stadt und einen Weihnachtsmarkt sucht man in den Straßen vergebens. Auf Adventsbasare muss ich dennoch nicht verzichten. Allein 1000 Menschen kamen zum Basar in die Erlöserkirche. Heiß begehrt waren dort die Advents Kränze, die man hier nirgendwo kaufen kann. Hier gibt’s kein Tannengrün und um rote Kerzen zu kaufen, muss man eine Stunde Autofahrt nach Tel Aviv zu Ikea einplanen.

Die Buchhändlerin denkt an ihre wunderbaren KollegenInnen in Ottensen, die jetzt alles geben, um Weihnachten Freude zu bereiten. Weihnachtszeit hieß für mich immer auch Weihnachtsgeschäft! Trubel! Stress!

In diesem Jahr muss ich keine to do Listen abarbeiten, keine Weihnachtsgans braten, in keiner Schlange stehen und werde vermutlich auch keine Geschenke bekommen. Hier werde ich mit einer anderen Realität konfrontiert. Der Wunsch nach Frieden ist in dem Land, in dem Jesus geboren wurde, das Nötigste! Am vergangenen Sonntag hat unser Probst in Worte gefasst, was adventlich leben heißen kann. Statt eines Adventskranzes habe ich nun ein paar Zweige in einer Vase stehen und bin voller Vorfreude auf das, was mir blüht.

Mit aufrechten Gang und erhobenen Haupt

Predigt über Lukas 21, 25-33 von Propst Dr. Rainer Stuhlmann

2. Sonntag im Advent, 8. Dezember 2019

Erlöserkirche Jerusalem

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, 26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. 27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. 28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. 29 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: 30 wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer schon nahe ist. 31 So auch ihr: Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist. 32 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. 33 Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.

Ganzen „Völkern wird bange sein“, sie „verzagen“, sie „vergehen vor Furcht“. Das Meer ist entfesselt. Himmel und Erde „werden ins Wanken kommen“. Angst und Schrecken verbreiten Bibeltexte wie diese. Eine der üblichen Höllenpredigten, die die Sektierer innerhalb und außerhalb der Kirchen so lieben? Biblische Texte, die dem Glauben an einen liebenden menschenfreundlichen Gott stracks zuwider laufen? Solche Apokalyptik ist nichts für mich. Mit erhobenem Haupt, die Nase hoch, wende ich mich ab. Stolz sehe ich herab auf die, die sich von Sektierern bange machen lassen.

Es könnte sein, dass mein Stolz lediglich der Stolz eines Leidverschonten ist, der es sich in der Adventszeit gemütlich macht und die Augen verschließt vor den anderen, die auf ihrer Flucht im entfesselten Meer ertrinken. Der Leidverschonter, „fröhlicher Weihnacht“ entgegen sieht, während andere sich vor diesem Fest fürchten, weil in diesem Jahr für ihre Familie alles so schrecklich anders geworden ist. Der Leidverschonte, der sich am Strand in Tel Aviv in der Sonne aalt, während südlich und nördlich und östlich von ihm ganzen Völkern bange ist, Frauen und Kinder verzagen und auch starke Männer vor Furcht vergehen.

Auch Jesus war ein Apokalyptiker, ein Hell-Seher, einer mit Durchblick, einer mit klarem Blick für die Realitäten des Lebens und den Zustand unserer Welt. Aber anders als die Apokalyptiker von heute, machen Jesus und die anderen biblischen Apokalyptiker die Menschen nicht bange. Sie machen ihnen nicht die Hölle heiß. Sie lehren sie nicht die Angst vor Tod und Teufel und schon gar nicht vor Gott. Sie lehren uns das Gegenteil: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“

Das ist nicht das vor Stolz erhobene Haupt eines Leidverschonten. Es ist eine Haltung und ein Verhalten, das angesichts der Hölle auf Erden nicht den Mut verliert, das angesichts des Leides nicht verzagt, das auch in aller Verzweiflung nicht die Hoffnung aufgibt. Es ist die Haltung des trotzigen Dennoch.

„Mit aufrechtem Gang und erhobenem Haupt“, so hat Immanuel Kant Menschen beschrieben, die aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreit wurden, befreit von religiösen Ängsten zu kritischem Denken, befreit ihren Verstand zu gebrauchen, wo sein Gebrauch hilfreich ist, Aberglaube und Kinderglaube hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden, auch religiös erwachsen zu werden. 

Ein Programm, das in dieser Stadt so nötig ist wie in kaum einer anderen. An allen Ecken dieser Stadt blüht und gedeiht unaufgeklärte Religion und mit dieser Gestalt von Religion der Irrationalismus, der ins Verderben führt, der Menschen verführt, Leben zu verachten und Freiheit zu hassen. Religion als Nährboden der Gewalt. 

Aufrechter Gang und erhobenes Haupt sind Zeichen der Freiheit. Es ist die Gangart der Religion der Freiheit in jüdischer, muslimischer und christlicher Spielart. Eine Religion, die lehrt, mit aufrechtem Gang und erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen, ist die Gegenkraft zu religiösem Fundamentalismus in jüdischer, muslimischer und christlicher Spielart.

Wie lernen wir die Haltung des aufrechten Gangs und erhobenen Hauptes? Jesus verweist uns auf zwei Quellen, auf zwei Lehrbücher. Beide haben einen adventlichen Charakter, weil sie uns das Warten lehren. Und damit wenden sie unseren Blick in die richtige Richtung. Mit der richtigen Blickrichtung richtet sich auch unser Gang in die richtige Richtung.

Das eine Lehrbuch ist die jüdische Bibel. Die geheimnisvolle Figur des Menschensohnes ist eine Metapher, ein Bild, zu dem andere Bilder gehören. Im Buch Daniel ist zum ersten Mal davon die Rede, und dann in vielen Schriften, die die Juden zur Zeit Jesu gelesen haben. Mit dem Bild des Menschensohnes erschließt sich dem kundigen Bibelkenner eine Bilderwelt, mit der das ganze Weltgeschehen in Geschichte und Gegenwart beschrieben wird. Darin ist der Menschensohn ein kraftvolles Gegenbild. Er ist ein Gegenbild zur Welt der Raubtiere, der Welt der Löwen, Adler, Bären, Panther. Ein Gegenbild zu einer Welt, in der die Starken die Schwachen fressen, einer Welt ohne Erbarmen. Die Welt, in der Menschen sich wie Tiere verhalten, so war die Welt und so ist sie. Die Mächtigen regieren sie wie Raubtiere. Ungeniert setzen sie die Raubtiere sogar in ihre Wappen. Einer ist dem anderen ein Wolf, ein Bär, ein Löwe, ein Adler. 

Was die Leidverschonten fremd anmutet, das ist die tägliche Erfahrung derer, die die Hölle auf Erden am eigenen Leibe erleben. Sie finden sich darin wieder, weil ihre Welt einem Schlachthaus gleicht, durch das sie im Blut waten. Ihre Welt ist das Haus des Menschenfressers, der keine Gnade kennt. Was gibt ihnen in dieser Welt voll Blut und Tränen Zuversicht? Was gibt ihrem Glauben Nahrung und ihrer Hoffnung Kraft? Was sie tröstet, um wieviel mehr wird es die Leidverschonten trösten! Was tröstet sie?

Der Menschensohn. Er ist das Gegenbild zu den Raubtieren. Symbol für Menschlichkeit und Urbild der Humanität. Ein Bild für das kommende Gottes Reich. Er ist der Kommende, weil er der Bleibende ist. Auch wenn Himmel und Erde vergehen, er bleibt. Und er bleibt für uns, weil er zu uns redet. Der Menschensohn ist Gottes bleibendes Widerwort zur Welt der Raubtiere. Keine billige Vertröstung, die die Welt der Raubtiere verdrängt. Vielmehr wirkungsvoller Trost, weil der Menschensohn sich mit der Welt der Raubtiere anlegt, den Kampf mit ihnen aufnimmt und am Ende der Sieger bleibt. Und der Sieger über Tod und Teufel behält seinen Sieg nicht für sich. Er wird allen daran Anteil geben.

Wer diesem Widerwort traut, wird selber befähigt, Widerworte zu geben, allen voran das machtvolle Dennoch. „Eure Herren gehen, unser Herr kommt“, werden die sich laut oder leise vorsagen, die dem Menschensohn trauen. Ihr aufrechter Gang und ihr erhobenes Haupt lenkt ihren Blick vom halbleeren Maß auf das halbvolle Maß. Der das Maß schon halb gefüllt hat, gibt uns die Gewissheit, dass es nicht halbvoll bleibt. 

Und das schon gesprochene Widerwort wird uns nicht nur zu Widerworten sondern auch zum Widerstand befähigen. Im Vertrauen auf den Menschensohn werden wir der Welt der Raubtiere widersprechen und widerstehen, soweit es uns möglich ist. Und darum werden wir nicht bejammern, dass wir dem Meer des Elends nicht gewachsen sind, sondern entschlossen tun, was wir tun können zur Humanisierung der Welt.

Die Apokalyptik der Sektierer ist Drohbotschaft. Biblische Apokalyptik ist Trostbotschaft. Unser Herr kommt. Das Reich der Humanität, in dem Gerechtigkeit und Friede sich küssen, ist nahe herbei gekommen. „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“

Und wen das noch nicht überzeugt, den verweist Jesus neben der Bibel wie so oft auf ein zweites Lehrbuch. Das Buch der Natur. Ein Buch täglicher Erfahrung. Auch der Jakobusbrief weiß das Buch der Natur zu schätzen, wie wir eben in der Lesung gehört haben.

In jeder Jahreszeit hält das Lehrbuch der Natur für uns eine Lektion bereit. Was wir im Frühjahr an den Knospen des Feigenbaumes lernen können, das lernen wir im Dezember an einem kahlen Mandelbaumzweig. Das Kommende ist heute schon präsent, auch wenn unsere Augen es nicht sehen. „Erinnert euch!“, sagt die Natur. Was im Winter wie tot aussieht, das begeistert euch in zwei oder drei Monaten als zauberhafter Blütentraum, das lässt euch im Sommer die Früchte sehen und im Herbst sie ernten und genießen. Vertraut wie der Bauer und die Gärtnerin auf die Schöpferkraft Gottes! 

Manchmal gerät mein Glaube in den Winter. Ich fühle mich saft- und kraftlos wie ein dürrer Ast, wie die kahlen Bäume, die es auch in diesem Land in dieser Jahreszeit gibt. Dann habe ich die Lektion der Natur nötig. Meine Zweifel und Mängel sind doch nur eine Momentaufnahme. Was der Frühling und Sommer an kahlen Bäumen hervorbringen, das alles steckt jetzt schon in ihnen. Sie haben‘s „in sich“.

Selbst ein abgeschnittener Ast hat’s noch in sich. Wasser und Wärme treiben heraus, was wir jetzt nicht sehen. Was heute wie Realität aussieht, – Tod und Kraftlosigkeit – das wird als Schein entlarvt. Das Leben setzt sich durch. 

In manchen Gegenden stecken Menschen am 4. Dezember, dem Tag der Hl. Barbara, kahle Zweige in die Vase. Zwanzig Tage, drei Wochen später, am Christfest, stehen sie in voller Blütenpracht. So lassen sie sich in dunkler Zeit das Evangelium predigen. Der Kommende ist unterwegs. Das Leiden ist nicht endlos. Dein Leben ist nicht hoffnungslos. Ihr seid solche, die es schon „in sich“ haben.

Tut, was eures Amtes ist! Wie der Bauer, der gesät hat, und die Gärtnerin, die gepflanzt hat, nicht ihre Hände in den Schoß legen, sondern genug zu schaffen und reichlich zu arbeiten haben, so auch ihr! „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ Und tut, was heute für euch dran ist, auch wenn es nur Fragmente sind! So lebt ihr adventlich, dankbar und voller Erwartung. Amen.

Pfarrerin Dr. Cäcilie Blume und Probst Dr. Rainer Stuhlmann nach dem Gottesdienst in der Erlöserkirche